Vergessen wir den Traum von der Gerechtigkeit. UBS-Chef Marcel Ospel verdient 2'000'000 Franken im Monat, Erntearbeiter Ricardo Nuñez (Name geändert) deren 2800. That's it. Punkt. Der eine köpft Salate, der andere tilgt höchstens Stellen. Doch der Banker erhält mehr als 700-mal mehr Lohn als der Gemüsepflücker.

«Den gerechten Lohn gibt es nicht», bestätigt Headhunterin Doris Aebi. Lohn sei weit mehr als die konkrete Entschädigung der getätigten Arbeit. Faktoren wie das zukünftige Potential des Arbeitnehmenden, seine spezifische Bedeutung für das Unternehmen oder dessen Loyalität spielten für den individuellen Lohn ebenfalls eine Rolle. «Damit findet immer auch eine Bewertung statt, die vom Einzelnen als ungerecht empfunden werden kann», meint Aebi. Ist das Thema deshalb vom Tisch? Nein.

Auch nicht für unsere 14 Porträtierten, die Coiffeuse, die Richterin, den Polier, die Hebamme oder den Piloten. Sie alle beschäftigt die Frage, ob ihr Lohn gerecht ist oder eben nicht. «Nein», sagt der Polier. «Ich trage gleich viel Verantwortung wie ein Kadermitglied in einer anderen Branche und verdiene doch 1000 Franken weniger.» «Nein», sagt die Hebamme. «Ich bin nicht einverstanden, dass unsere Arbeit so wenig wert sein soll.» «Ja», sagt der Pilot. «Mein Lohn ist gerecht. Das ist das, was der Markt für diese Tätigkeit bezahlt.» Und fragt man Schweizerinnen und Schweizer, welcher Lohn gerecht sei für einen Hausarzt, eine Bundesrätin, einen Firmenchef oder eine Kassierin, haben sie ganz konkrete Vorstellungen.

Es gibt ihn also doch, den gerechten Lohn - zumindest im Empfinden der Menschen.

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Die Gesellschaft redet ein Wörtchen mit
«Das ist etwas anderes», sagt Headhunterin Aebi. Die subjektive Einschätzung, wie viel welche Berufsgruppe verdienen soll, stehe oft im Gegensatz zum Lohn, den der Markt ergibt.

Geht es also nicht um das Salär des Einzelnen, sondern ums Lohnniveau ganzer Berufsgruppen, ist die Frage des gerechten Lohns noch viel komplexer.

Da redet nämlich die Gesellschaft mit ihren Wertungen noch ein Wörtchen mit. Bei einer Kleinkind-Erzieherin heisst es: Die ist doch glücklich, wenn sie mit Kindern zusammen sein kann - die braucht nicht so viel Lohn. Bei einem Lehrer heisst es hingegen: Der muss den Kindern Lesen und Schreiben beibringen - das ist schwieriger und wichtiger; darum bezahlt man ihm mehr. Diese Verteilung ist auch nicht immer gerecht, aber zumindest beim Staatspersonal und im Gesundheitswesen in Besoldungsverordnungen geregelt und vom Volk abgesegnet. Wenn eine einfache Krankenschwester also nur 4000 Franken verdient, so ist das letztlich vom Bürger gewollt. Der Gesellschaft ist die Versorgung von Kranken offenbar nicht mehr wert. Auch wenn man darüber im Krankenbett dann plötzlich anders denken mag.

Warum aber verdienen Hausärzte heute weniger als vor zehn Jahren? Wieso Investmentbanker plötzlich massiv mehr? Findet es die Gesellschaft auf einmal viel wertvoller, sich ums Kapital zu kümmern als um Menschen? Dann müsste das Sozialprestige von Bankern ja ins Unermessliche steigen, und das kann man nun wirklich nicht behaupten. «Da gibt es einen Widerspruch, den viele Leute nicht mehr verstehen», sagt Aebi. «Das hat unter anderem mit der Profitabilität und der globalen Ausrichtung dieser Branche zu tun.»

Das bestätigt Anton Leist, Professor für Ethik an der Universität Zürich, der ein Nationalfonds-Projekt zum gerechten Lohn geleitet hat: «Entscheidend ist, was eine Branche überhaupt an Geld verteilen kann. Und das bestimmt der Markt», meint er. Eine hochproduktive Branche wie der Finanzsektor zahle mehr als eine schwachproduktive wie das Gastgewerbe.

Es gibt also zwei Systeme, die den Lohn bestimmen: der Markt durch Angebot und Nachfrage sowie die Gesellschaft mit ihren Wertungen. Zwischen den beiden gibt es in den letzten Jahren zunehmend Spannungen, weil die Löhne in der Finanzbranche und in multinationalen Unternehmen in nie gesehene Höhen gestiegen sind. «Solche Löhne jenseits der Leistungsgerechtigkeit abzukassieren beleidigt viele arbeitende Mitarbeiter», sagt Ethiker Leist. Und: «Dadurch erodieren der wichtige Glaube an Lohngerechtigkeit und die Motivation, sich an der Arbeit zu beteiligen.» Unsere Gesellschaft beruhe nämlich auf einem stillschweigenden Arbeitsvertrag aller mit allen. Jeder habe das Gefühl, an der Gesamtwirtschaft beteiligt zu sein. Mit welchem Recht aber nur einzelne Berufsgruppen von einem Wirtschaftsaufschwung profitieren, verstehen immer weniger Arbeitnehmer. «Die überrissenen Boni von Managern kann ich gar nicht mehr nachvollziehen», bringt es etwa der Sekundarlehrer Thomas Rogowski auf den Punkt.

Das Lohngefüge ist zerbrochen
Was ist da passiert? Noch vor 20 Jahren waren Sozialprestige und Lohn gekoppelt. Der Richter, der Lehrer, der Anwalt und der Pfarrer - sie hatten hohes Ansehen und hohe Löhne. Heute verdient ein Banker bereits in jungen Jahren mehr als ein altgedienter Priester. Das gesellschaftlich anerkannte Lohngefüge ist zerbrochen.

«Das ist die Wirkung der ‹schöpferischen Zerstörung› des Wettbewerbs, der sich das Kapital und dessen Manager in der heutigen globalisierten Wirtschaft zunehmend radikaler bedienen», sagt Ulrich Thielemann, Vizedirektor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen, in der gewundenen Sprache des Hochschuldozenten. «Ein immer grösserer Anteil der Wertschöpfung geht ans Kapital und an die Kapitaldienstleister.» Oder einfacher: Mit Kapital lässt sich schnelleres Geld machen als mit ehrlicher Arbeit - und dies heute leichter denn je. Deshalb verliert die Grundlage der Gesellschaft, der Arbeitsvertrag aller mit allen, an Bedeutung, und die gesellschaftlichen Spannungen nehmen zu.

Die moderne Marktwirtschaft hat aber nicht nur die Berufsgruppen neu eingestuft, sondern auch die Kriterien für eine gute Leistung innerhalb eines Betriebs völlig verändert. Früher waren Erfahrung und Fleiss wichtig. Heute zählt das kaum mehr. «Ich finde es nicht gerecht, dass junge Kollegen schon als Anfangslohn fast gleich viel bekommen wie ich mit einer Berufserfahrung von 33 Jahren», sagt der Servicetechniker Fritz Schmid.

Heute müsse ein Arbeitnehmer vor allem risikobereit, effizient und flexibel sein, beschreibt Philosophieprofessor Leist die zentralen Eigenschaften des modernen Angestellten. «Gefragt ist eine allgemeine Sportlichkeit bei beliebigem Inhalt. Der Manager ist der zeitgemässe Arbeiter.» Paradoxerweise wird aber das Kriterium «Leistung» immer mehr durch Willküreffekte neutralisiert: Der einzelne Arbeitnehmer kann sich noch so abstrampeln, wenn seine Branche wenig Gewinn einfährt. Zufall und Willkür regieren den Unternehmenserfolg und somit immer stärker auch die Lohnsumme. So hat das Naturereignis Vogelgrippe Roche satte Gewinne beschert. Und dass selbst der Kapuzineraffe der Chicagoer Zeitung «Sun-Times», der Anfang Jahr jeweils fünf Aktientitel auswählt, damit an der Börse Gewinne von 30 und mehr Prozent erzielt, spricht Bände.

Maulkorb für Banker
All das macht orientierungslos. Ist mein Lohn gerecht? Schliesslich sind die Bewertungskriterien der Wirtschaft undurchschaubar, zufällig bis willkürlich. Und die gesellschaftlichen Wertungen aus einer andern Zeit, überholt und veraltet.

Was tun? Löhne offenlegen und Begründungen für Unterschiede verlangen! Deshalb haben sich 14 Leute bereit erklärt, ihre Gehälter im Beobachter zu veröffentlichen und so wenigstens ansatzweise das aktuelle Einkommensgefüge sichtbar zu machen. Das braucht Mut. Denn über den Lohn zu reden ist noch immer ein Tabu. «Die Arbeitgeber haben Vorteile, wenn die Löhne nicht bekannt sind», sagt Professor Leist. «Dadurch verhindern sie Forderungen der relativ schlechter Bezahlten.» Genau deshalb haben wir für unsere Aktion keinen Banker gefunden: Ihnen wird es vom Arbeitgeber verboten, gegenüber Dritten ihr Salär offenzulegen. Die Angestellten hingegen haben grundsätzlich ein Interesse an Transparenz, weil sie dadurch die Gerechtigkeit ihrer Löhne kontrollieren könnten. Doch gerade bei den karg gehaltenen Berufsgruppen steht oft die persönliche Scham einem Outing im Weg, ebenso - wie bei den Recherchen zu diesem Artikel überdeutlich wurde - die schiere Angst davor, durch einen Positionsbezug die Stelle zu verlieren. Ethiker Leist erklärt die Unlust auf eine öffentliche Diskussion so: «Der einzelne Arbeitnehmer tut es nicht, weil er meist fürchtet, den Neid anderer hervorzurufen und den Lohnvorteil zu verlieren.»

Genau das ging im Kopf jenes 33-jährigen Architekten vor, als der Beobachter ihn fragte, ob er seinen Lohn offenlegen würde. Zwar hätte er die Welt noch so gern wissen lassen wollen, wie unfair sein Lohn von 6000 Franken brutto im Monat sei, trotz ETH-Abschluss und grossem Pensum. Aber er sagte den bereits fixierten Gesprächstermin trotzdem wieder ab - nachdem er herausgefunden hatte, dass deutsche Kollegen im selben Betrieb für die gleiche Arbeit noch weniger bekommen. «Das gäbe intern Zoff.» Klar ist dem verstummten Architekten eines: «Beim Lohn hört die Gerechtigkeit auf.» Voilà.

PS: Der Vollständigkeit halber seien hier die Brutto-Monatslöhne der Autoren dieses Artikels vermerkt: Daniel Benz, Redaktor und Ressortleiter beim Beobachter, 9529 Franken; Dominique Strebel, Redaktor, 8857 Franken.

 

Die Lohnklassen

Welcher Anteil der Vollzeitbeschäftigten gehört welcher Lohnklasse an? Angegeben ist der Bruttolohn pro Monat.
Lohnklassen in FrankenAnteil in Prozent
bis 1000- (zu wenig Daten)
1001-20000
2001-30001,1
3001-400010
4001-500019,5
5001-600021,8
6001-700015,5
7001-800010
8001-90006,3
9001-10'0004,2
10'001-11'0002,9
11'001-12'0002
12'001-13'0001,4
13'001-14'0000,9
14'001-15'0000,7
15'001-16'0000,5
16'001-17'0000,4
17'001-18'0000,3
18'001-19'0000,2
19'001-20'0000,2
über 20'0011,2


Quelle: Bundesamt für Statistik, 2004