Beobachter: Die Bundesverfassung schreibt vor, dass der Staat für Hilfsbedürftige ein «menschenwürdiges Leben» sicherstellt. Was heisst das?
Pierre Heusser: Dass man mehr hat als bloss das «biologische Minimum» – also mehr als nur genug zu essen und ein Dach über dem Kopf. Vielmehr gehört dazu auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, schliesslich ist der Mensch ein soziales Wesen. Leben ist mehr als nacktes Überleben.

Partnerinhalte
 
 
 
 

Beobachter: Auch dann, wenn es nur für eine Übergangsphase ist?
Heusser: Das zeitliche Element ist entscheidend. Es ist ein grosser Unterschied, ob jemand zwei Wochen Unterstützung braucht oder zwei Jahre. Kurzfristig kann auch ein Aufenthalt in einem Luftschutzkeller menschenwürdig sein. Wenn jemand länger auf Hilfe angewiesen ist, gehört aber mehr dazu – bei zwei Jahren im Luftschutzkeller geht die Menschenwürde definitiv verloren. Es heisst ja nicht umsonst Sozial-Hilfe und nicht Überlebens-Hilfe.

Beobachter: Vor kurzem bezeichneten Sie in einem Beobachter-Artikel die Ausgestaltung des Grundbedarfs als verfassungswidrig. Warum?
Heusser: Das hängt mit der letzten Revision der Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe im Jahr 2016 zusammen. Damals wurde die Sozialhilfe von den statistisch belegten Lebensrealitäten entkoppelt. Die Skos hatte eigens abklären lassen, wie viel Geld man braucht, um auf dem Minimum zu leben. Dazu wurden die untersten zehn Prozent der Einkommensskala herangezogen. So kam man auf 1076 Franken als monatlichen Grundbedarf für eine Einzelperson. Dennoch blieb es bei der Empfehlung der zuvor schon gültigen 986 Franken. Die Skos ignorierte das Ergebnis der eigenen Studie.

Beobachter: Sparpolitiker würden argumentieren: 90 Franken weniger sind verkraftbar.
Heusser: Für Normalverdiener schon. Aber nicht für Armutsbetroffene, die bereits mit den ermittelten 1076 Franken am Existenzminimum leben müssten. Dass die Skos-Richtlinien unter dem tatsächlichen Bedarf liegen, finde ich zwar unschön, aber noch nicht dramatisch. Das wirkliche Problem liegt darin, dass immer mehr Kantone mit ihren Ansätzen massiv daruntergehen. Wenn solche Festlegungen nicht nur kurzfristige Überbrückungslösungen sind, sondern dauerhaft gelten, ist das meiner Ansicht nach klar verfassungswidrig.

«Jemand aus Nordafrika könnte mehr Sozialhilfe erhalten als jemand aus dem Tessin. Absurd.»

Pierre Heusser ist Rechtsanwalt in Zürich mit Schwerpunkt Sozialversicherungs- und Sozialhilferecht. Der 48-Jährige hat die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) mitbegründet und ist deren Vertrauensanwalt. 

Beobachter: Haben Sie ein Beispiel dafür?
Heusser: Der Kanton Bern plant, den Grundbedarf generell um acht Prozent zu senken. Und wer keine Amtssprache beherrscht, also Deutsch oder Französisch, soll gar 30 Prozent weniger Sozialhilfe erhalten. Das kann dazu führen, dass jemand aus einem nordafrikanischen Land mehr Unterstützung erhält als jemand aus dem Tessin. Das ist absurd und verstösst gegen das Gebot der Gleichbehandlung.

Beobachter: Die Skos selber behandelt einzelne Personengruppen anders als andere: Leute bis 25 Jahre erhalten einen Fünftel weniger Grundbedarf…
Heusser: …und kaum hat derselbe Mensch seinen 26. Geburtstag, soll er plötzlich wieder 20 Prozent mehr zum Leben benötigen? Das ist eine dieser ins Blaue hinein getroffenen Annahmen, die einfach realitätsfremd und verfassungswidrig sind.

Beobachter: Die Skos ist ein Fachverband, in Bern und anderswo legen vermutlich die Stimmbürger die Höhe der Sozialhilfe fest. Welche Signalwirkung hätte ein Berner Ja zu den geplanten Kürzungen?
Heusser: Es wäre ein Dammbruch. Da würde sich ein ganzer Kanton aus der Sozialhilfe verabschieden. Sie wäre bloss noch eine Art «Asozialhilfe».

Beobachter: Die Skos-Richtlinien sind offensichtlich beliebig verhandelbar geworden. Braucht es sie da überhaupt noch? Braucht es die Skos noch?
Heusser: Eigentlich mehr denn je! Aber dafür müsste sich die Skos zurückbesinnen und sagen: Wir sind eine Fachorganisation, wir legen unsere Empfehlungen nicht nach politischen Kriterien fest. Die breite Akzeptanz, die die Konferenz lange hatte, begründete sich ja genau darin, dass ihre Richtlinien fundiert abgeklärt wurden. Indem sie von dieser wissenschaftlichen Basis abgekehrt ist, hat sie einen grossen Fehler gemacht. Die Skos ist vor der Politik eingeknickt. Das kann man so sagen. Und sobald die Skos politisch wird, braucht es sie wirklich nicht mehr. Dafür haben wir ja die Parlamente und Parteien.

Beobachter: Wenn Sie sagen, der heutige Zustand sei verfassungswidrig – müsste man dann nicht klagen?
Heusser: Unbedingt. Man kann ein kantonales Gesetz auf Verfassungswidrigkeit einklagen; juristisch nennt sich das abstrakte Normenkontrolle. Tatsächlich überlegen wir uns in der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht eine solche Klage. Aber das braucht einen langen Schnauf. Wir müssten bis zum Bundesgericht durchklagen, vielleicht gar bis zum Gerichtshof für Menschenrechte.

Beobachter: Deutsche und englische Gerichte haben bei vergleichbarer Ausgangslage auf Verfassungswidrigkeit entschieden. Was lässt sich daraus für die Schweiz ableiten?
Heusser: Die Urteile sagen nichts aus über die Höhe der Sozialhilfe. Sie äussern sich zur Frage: Wie kommt man zu einem realistischen Grundbedarf? Beide Entscheide besagen, dass man sich dafür zwingend an statistischen Kennzahlen orientieren muss. Und wenn man davon abweichen will, braucht es immer eine sachliche Begründung. Wenn diese fehlt, ist die Festlegung nicht gültig. Eine willkürliche Anordnung wie in der Schweiz, wonach 25-Jährige einen Fünftel weniger Sozialhilfe bekommen als 26-Jährige, würde in Deutschland hundertprozentig gekippt. Das Votum ist unmissverständlich: Einfach den Finger in die Luft halten und eine Annahme treffen, das geht nicht.

12'000-mal Dankeschön

Der Beobachter-Artikel «Die Sozialhilfe spart ohne Plan» zeigte auf, wie die Stiftung SOS Beobachter Sozialhilfebezüger unterstützen kann, denen die Behörden Leistungen kürzten – ohne damit Aufgaben des Staates zu übernehmen. Die Resonanz auf die Publikation ist enorm: Bis Mitte Dezember sind über 12'000 Spenden im Gesamtbetrag von rund 1,45 Millionen Franken eingegangen. 

Diese grosszügigen Zuwendungen sind ein Vertrauensbeweis in unsere Arbeit. 

Dafür und für die Solidarität mit Menschen, die sich in einer schwierigen Lebenslage befinden, danken wir Ihnen herzlich!

Die Spendenaktion läuft weiter: online unter www.sosbeobachter.ch oder via Postkonto 80-70-2, IBAN CH84 0900 0000 8000 0070 2 (Empfänger: Stiftung SOS Beobachter, 8021 Zürich; Zahlungszweck: D-11-2017)

Informationen zur Tätigkeit der Stiftung und über weitere Spendemöglichkeiten: www.sosbeobachter.ch.

Stiftung SOS Beobachter
Ihre Spende hilft uns, Menschen in Not zu helfen.