Dieses Licht, diese Schlichtheit, dieser Raumeindruck – wer die gerade mal 42 Quadratmeter grosse Einzimmerwohnung an der Nidelbadstrasse im Süden Zürichs betritt, ist fasziniert. Von vorn fällt Licht durch raumbreite Schiebefenster ein, von hinten durch ein Oberlichtband.

Der dunkelbraune Linoleumboden wirkt wohnlich und passt gut zu den weissen Wänden und den schlichten Möbeln aus Stahl und Holz. Hellgraue Einbauschränke schaffen Stauraum, Küche und Bad sind zwar knapp bemessen, aber platzsparend organisiert.

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91 Jahre alt und doch zeitgemäss: eine Einzimmerwohnung in der Siedlung Neubühl in Zürich-Wollishofen

91 Jahre alt und doch zeitgemäss: eine Einzimmerwohnung in der Siedlung Neubühl in Zürich-Wollishofen

Quelle: Kantonale Denkmalpflege Zürich

Funktionalität wird hier ebenso grossgeschrieben wie eine sorgfältige Gestaltung bis hin zu Fenster- und Türgriffen. So zeitgemäss das klingt: Die Wohnung ist 91 Jahre alt und Teil der Genossenschaftssiedlung Neubühl in Zürich-Wollishofen. Seit 2015 wird sie an Besucher vermietet.

Nicht wenige kommen explizit ihretwegen. Denn das 1932 erbaute Neubühl ist nicht irgendeine Siedlung, sondern eines der wichtigsten Beispiele des Neuen Bauens in der Schweiz.

Der Vermietungsprospekt versprach gar «Wohnen wie in den Ferien».

Einfach und hell: Der Vermietungsprospekt versprach gar «Wohnen wie in den Ferien».

Quelle: Kantonale Denkmalpflege Zürich

Es faszinierte bereits bei der Fertigstellung: «Niemand kann sich dem Eindruck entziehen, wie leicht und atmend die niedrigen Hauszeilen in den offenen Gärten mit Rasenbeeten, Sonnenblumen und bunten Herbstastern stehen», schrieb die NZZ 1932. Der Vermietungsprospekt versprach gar «Wohnen wie in den Ferien».

Kubische Formen, flache Dächer

Die Epoche des Neuen Bauens begann nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem in Deutschland, Holland sowie Frankreich, und endete mit dem Zweiten Weltkrieg. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurden viele Ideen davon wiederaufgenommen, als in kurzer Zeit Tausende Wohnungen gebaut werden mussten.

Noch heute prägen Elemente des Neuen Bauens die Art, wie Wohnhäuser entworfen werden: mit einfachen kubischen Formen, flachen Dächern, grossen Fenstern, Balkonen und Terrassen, weissen Wänden. Aus der damaligen Zeit stammt auch die Prämisse, Grundrisse funktional zu gestalten und kostensparend zu wiederholen.

Was für uns heute selbstverständlich ist, war in den Zwanzigerjahren revolutionär. Denn breite Bevölkerungsschichten lebten in prekären Verhältnissen: Kleine, dunkle und mit Öfen beheizte Wohnungen waren in den Städten an der Tagesordnung.

Eine einzige Toilette im Hinterhof musste für Dutzende Wohnungen genügen, waschen konnte man sich nur in der Küche, und oft teilten sich aufgrund der Wohnungsnot mehrere Familien eine Unterkunft. Der Wohnraum war knapp, weil die Industrialisierung viele Menschen in die Städte lockte.

Diese Zustände waren für eine junge Garde von Architekten Anlass, das Bauen neu zu denken. Ihre Ideen wurden von Künstlerinnen, Architekturtheoretikern und Politikern mitgetragen. Das Neue Bauen war nicht nur ein Architekturstil, sondern eine künstlerische Avantgardebewegung mit teilweise utopischen Gesellschaftsentwürfen.

Mit Zeitschriften, Bauausstellungen und Mustersiedlungen sorgte die Bewegung für eine rasche Verbreitung des neuen Stils. Zum Marketing gehörten auch Filme wie Hans Richters «Die neue Wohnung» von 1930. Dieser stellte die dunklen Hinterhofwohnungen den neuen, hellen Wohnräumen in der Zürcher Siedlung Neubühl gegenüber.

«Schön ist ein Haus, das gestattet, in ­Berührung mit Himmel und Baumkronen zu leben.»

Sigfried Giedion, Architekturtheoretiker

Viele noch heute bekannte Köpfe aus Architektur, Kunst und Kultur waren damals in der Bewegung aktiv. Dazu zählen aus der Schweiz etwa der Architekt Le Corbusier oder der Gestalter und Künstler Max Bill. Zu ihnen gesellte sich eine Reihe von Architektinnen und Architekten, deren Namen vor allem in Fachkreisen bekannt sind, deren Bauten aber auch ein breites Publikum kennt.

Ein weiterer wichtiger Exponent war der in der Schweiz lebende Architekturtheoretiker Sigfried Giedion. Er schrieb 1929 das Buch «Befreites Wohnen. Licht, Luft, Öffnung», das als Standardwerk der Bewegung galt. Giedion formulierte darin poetisch: «Schön ist ein Haus, das gestattet, in Berührung mit Himmel und Baumkronen zu leben.»

Die Architekten der Bewegung nutzten damals neue Baumaterialien wie Beton und industrialisierten den Bauprozess. Aufgrund der Wohnungsnot war auch der politische Druck für die Umsetzung da. So sah die Verfassung der Weimarer Republik vor, «jedem Deutschen eine gesunde Wohnung zu sichern».

In Städten wie Frankfurt am Main oder Berlin entstanden in den Zwanzigerjahren grosse Wohnsiedlungen im Stil des Neuen Bauens für die Arbeiterklasse. Sie waren günstig und boten einen bis dahin für einfache Leute unbekannten Komfort: Strom, Zentralheizung, ein eigenes WC, ein Bad und eine Einbauküche mit Gas- oder Elektroherd.

Reihenhäuser für den Mittelstand

Wichtigste Bildungsstätte für das Neue Bauen war die 1919 vom Architekten Walter Gropius gegründete Kunst- und Architekturschule Bauhaus im deutschen Dessau. Gropius gehörte auch zu den Architekten, die 1927 in Stuttgart die Mustersiedlung Weissenhof erstellten.

Mit dabei: sechs Architekten aus der Schweiz, die je eine Wohnung im Mehrfamilienhaus von Mies van der Rohe gestalteten. Fünf von ihnen taten sich später zusammen und planten die Wohnsiedlung Neubühl in Zürich – zusammen mit Friedrich T. Gubler, dem Sekretär der Architektenvereinigung «Werkbund».

Neubühl gilt als Paradebeispiel für Neues Bauen.

Der Bau startete 1930. Zielpublikum waren – im Gegensatz zu vielen anderen Siedlungen des Neuen Bauens in Europa – nicht Arbeiter, sondern Mittelständler, für die es damals ebenfalls an Wohnraum fehlte. Aufgrund der etwas zahlungskräftigeren Mieterschaft entstanden in Wollishofen keine grossen Mehrfamilienhäuser wie in Frankfurt oder Berlin, sondern mehrheitlich Reihenhäuser.

Die Prinzipien der Gestaltung folgten aber ganz den Prämissen des Neuen Bauens. Das gelang den damaligen Planern so gut, dass man beim Betreten der Häuser noch heute spontan denkt: dieses Licht, diese Schlichtheit, dieser Raumeindruck.

Genossenschaftssiedlung Neubühl: www.neubuehl.ch

Fünf Köpfe der Moderne

Neben Architektinnen und Architekten gehörten auch Künstlerinnen oder Architekturhistoriker zur Bewegung des Neuen Bauens. Viele von ihnen pflegten ein europaweites Netzwerk, tauschten sich über ihre Arbeiten aus, publizierten gemeinsam Zeitschriften, engagierten sich für Bauausstellungen oder verbrachten einige Berufsjahre im Ausland. Eine Auswahl der Protagonistinnen und Protagonisten.

Lux Guyer Lettenhof
Lux Guyer

gilt als bekannteste Architektin aus der Zeit des Neuen Bauens. Sie war 1928 leitende Architektin der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit in Bern. Ihr dort realisiertes vorgefertigtes Holzgebäude gilt bis heute als eines der wichtigen Werke seiner Zeit. Bekannte Bauten Guyers sind etwa das Studentinnenwohnhaus in Zürich-Fluntern oder die Frauenwohnkolonie Lettenhof in Zürich.

Le Corbusier

aus La-Chaux-de-Fonds zählt zu den international bekanntesten Architekten mit Schweizer Wurzeln und ist einer der frühen Vorreiter der Moderne. Die von ihm entworfene Villa Savoye (Bild) bei Paris gilt als eines der Schlüsselgebäude der Epoche. Da Le Corbusier früh nach Paris auswanderte, stehen nur wenige seiner Bauten in der Schweiz. Bekannt ist sein Pavillon am Zürichsee.

Villa Savoye bei Paris
Werner Max Moser und das Universitätsspital Zürich
Werner Max Moser

gehörte zum Architektenteam der Siedlung Neubühl in Zürich. Zuvor hatte er unter anderem bei Frank Lloyd Wright in den USA gearbeitet. Moser war Mitinitiant des noch heute existierenden Möbelgeschäfts «Wohnbedarf» in Zürich und gründete mit Max Ernst Haefeli und Rudolf Steiger 1937 ein Archi tekturbüro. Zu den bekanntesten Werken zählen das Universitätsspital (Bild) und das Kongresshaus in Zürich.

Max Ernst Haefeli

war ebenfalls Teil des Architektenteams der Siedlung Neubühl. Neben seiner Architektentätigkeit entwarf er auch Möbel, die zum Teil bis heute produziert wer den, und war Lehrer an der Kunst gewerbeschule Zürich. Zu seinen Werken zählen das Hochhaus zur Palme (Bild) oder das Menschenaffenhaus im Zoo Zürich.

Hochhaus zur Palmen entworfen von Max Ernst Haefeli
Dr. phil. Siegfried Giedion, 1949
Sigfried Giedion

gehörte als Architekturhistoriker und Buchautor zu den wichtigsten Förderern des Neuen Bauens in der Schweiz und verhalf den damals jungen Architekten zum Durchbruch. Auch Giedion engagierte sich für den Bau der Siedlung Neubühl.